Einblick in die „Dunkle Materie“ der Mikroben
„Diese Besonderheiten im Stammbaum des Lebens bedeuten, dass die derzeitige Vorstellung von den drei Domänen der Lebewesen vielleicht zu einfach ist“, sagt Jillian Banfield von der University of California in Berkeley, die Leiterin des Forscherteams. Heute teilt man die Lebewesen in drei Domänen ein: Archaeen, Bakterien und Eukaryoten. Die ersten beiden umfassen einzellige Mikroben ohne Zellkern, die sogenannten Prokaryoten. Zur dritten Gruppe, den Eukaryoten, zählen alle Pflanzen, Pilze und Tiere, die in mehrere Stämme eingeteilt werden. Der Mensch gehört, zusammen mit sämtlichen Wirbeltieren, zum Stamm der Chordatiere. Die von den Forschern entdeckten Bakterien unterscheiden sich sowohl untereinander als auch von den bekannten Arten so grundlegend, dass sie in mehr als 35 neue Stämme eingeordnet werden mussten.
Die Biologen entnahmen Proben von Grundwasser in der Nähe des Colorado-Flusses bei der Stadt Rifle. Durch Filtration trennten sie alle Bestandteile ab, die mindestens so groß wie normale Bakterien waren. Im verbliebenen Anteil sequenzierten sie dann die gesamte darin enthaltene DNA. Aus den so ermittelten DNA-Stücken konnten sie acht vollständige und 789 unvollständige Genome verschiedener neuer Spezies rekonstruieren. Da diese Mikroben normale Bakterienfilter passiert hatten, schätzen die Forscher den Durchmesser der Zellen auf nur 0,4 Mikrometer oder weniger. Auch die Genomgröße war äußerst gering. Das Erbgut enthielt nur 600 bis 1.100 Gene – bei E. coli beispielsweise sind es etwa 4.500. Einige für ein selbstständiges Leben erforderliche Gene fehlten ganz, andere wiesen ungewöhnliche Strukturen auf. So waren die ribosomalen RNA-Gene sehr untypisch. Der übliche Nachweis bakterieller DNA mittels PCR beruht aber gerade auf Sequenzabschnitten dieser Gene, die allen bekannten Bakterien gemeinsam sind. Das wäre eine Erklärung dafür, dass solche Mikroben bisher auch durch molekularbiologische Methoden nicht entdeckt wurden.
Die Biologen vermuten, dass die neuen Lebensformen von anderen Organismen abhängig sind und deshalb nicht als Reinkultur in Nährlösungen angezüchtet werden können. Möglicherweise leben sie als Symbionten im Innern anderer Zellen und sind, ähnlich wie Viren, auf deren Stoffwechsel angewiesen. Trotz ihrer späten Entdeckung sind diese Bakterien wahrscheinlich weit verbreitet und an ganz unterschiedlichen Standorten zu finden, sagt Erstautor Christopher Brown. Die meisten der neuen Stämme wurden nach bekannten Mikrobiologen benannt, wie zum Beispiel „Woesebakterien“ und „Shapirobakterien“. Ein Stamm erhielt den Namen „Berkelbakterien“ – damit ehrten die Forscher ihre Universität in Berkeley.