Die Mondlandung der Teilchenphysik: ein Hintergrund

Wie das Higgs-Teilchen die Welt im Innersten zusammenhält und warum die jetzige Entdeckung für die Zukunft der Physik so wichtig ist
Mögliches Higgs-Ereignis am ATLAS-Detektor. Das Higgs zerfällt in vier Myonen und hinterlässt damit eine klare Signatur.
Mögliches Higgs-Ereignis am ATLAS-Detektor. Das Higgs zerfällt in vier Myonen und hinterlässt damit eine klare Signatur.
© ATLAS / CERN
Es muss ja einen Grund geben, warum gestandenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Augen feucht werden, wenn sie das magische Symbol „5 Sigma“ sehen. Es muss einen Grund geben, warum weltweit viele tausend höchstqualifizierte Idealistinnen und Idealisten Jahrzehnte ihrer Lebenszeit und ihrer Hoffnungen in diesen einen Augenblick gesteckt haben, in dem die Statistik endlich ausreicht, um sagen zu dürfen: „Da ist etwas!“ Und es muss auch einen Grund geben, warum Staaten in internationaler Zusammenarbeit einige Milliarden Euro ausgeben, um abstrakten Theorien und Modellen von der Entwicklung des Kosmos auf den Grund zu gehen - bis zu jenem Punkt, an dem das Größte mit dem Kleinsten zusammenhängt.

Die Augenblicke, in denen Jahrzehnte harter Arbeit sich schließlich zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen, sind selten im Leben eines Wissenschaftlers. Dennoch sind sie es, die seiner Tätigkeit Sinn und Tiefe geben. Die Entdeckung des Higgs-Bosons wäre solcher Augenblick. Und dieses „wäre“ ist sehr vorsichtig gehalten: Denn alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Ankündigung des europäischen Teilchenforschungszentrums CERN vom Mittwoch, ein neues Teilchen gefunden zu haben, in der Tat auf das von der Standardtheorie geforderte Higgs-Teilchen hinweist.

Damit wäre der verzweifelt gesuchte und verzwickt schwierig zu findende Eckstein der heute bekannten Elementarteilchentheorie endlich gesichert. Das Teilchen wäre identifiziert, das allen anderen ihre Trägheit und Masse verleiht. Der letzte noch ausstehende Partikel im Baukasten der Elementarteilchen wäre gefunden. Und selbst wenn sich überraschenderweise herausstellen sollte, dass es ein anderes, unbekanntes Teilchen ist, wäre dies keine geringere Sensation. Im Gegenteil: Einige Theoretiker wünschen sich das geradezu; denn dann könnten sie neue Modelle unterbreiten, die über den Rahmen der heute akzeptierten Physik hinausweisen. Unsere Vorstellungen von der Entwicklung des Kosmos und von der Struktur der Materie müssten dann grundlegend revidiert werden.

Was also hat es mit diesem Higgs-Teilchen auf sich, dass alle Welt plötzlich von seiner mutmaßlichen Entdeckung informiert wird? Manch einer denkt sich, es werde halt kräftig die Werbetrommel gerührt, weil mal wieder eine Entdeckung zu brauchbarer Zeit verkündet werden musste. Auch Wissenschaftler sind schließlich nur Menschen, die hin und wieder ein bisschen Reklame brauchen, um Forschungsgelder und Drittmittel einzutreiben, weil sie zunehmend unter ökonomischem Rechtfertigungsdruck stehen. In der Tat sind in den letzten Jahren – und dies liegt auch an den politischen Rahmenbedingungen sowie unsauberer Pressearbeit – etliche sensationsheischende Verkündigungen an die Öffentlichkeit gebracht worden, deren Bedeutung höchst umstritten war.

Doch das jetzt entdeckte Teilchen gehört auf keinen Fall in diese Kategorie. Diese Entdeckung ist mehr als ein Meilenstein: Sie ist schlicht die Meisterleistung der weltweiten Elite der Teilchenphysiker und der sie unterstützenden Techniker der letzten 30 Jahre. Man kann sie aufgrund ihres Umfangs, ihrer Dauer, ihrer Komplexität und ihrer Bedeutung ruhigen Gewissens die „Mondlandung der Teilchenphysik“ nennen – dann spart man sich auch solche religiös aufgeladenen Begriffe wie den „heiligen Gral der Teilchenphysik“ oder das „Gottesteilchen“. Physiker, selbst religiös eingestellte, mögen diese schlagzeilentauglichen Begriffe überhaupt nicht, weil sie die nüchternen Fakten und ihre Deutung durcheinander würfeln. Zudem stammen viele der involvierten Physiker aus Kulturkreisen, die mit diesen Begriffen wenig verbinden. Auch wird sich die Bedeutung dieser Entdeckung für Physik, Technik und Philosophie wohl erst künftigen Generationen erschließen.

Die jetzt präsentierten Ergebnisse weisen genau darauf hin, wo man zu suchen hat, um die Physik voranzubringen: Nämlich bei einer Energie von rund 126 Gigaelektronenvolt. Nach Einsteins berühmter Gleichung, dass Masse und Energie äquivalent sind, entspricht diese Energie einer Masse des winzigen Higgs-Teilchens von immerhin 133 Wasserstoffkernen. 126 Gigaelektronenvolt entsprechen auch derjenigen Energie, die ein Elektron erhält, wenn es im Vakuum eine elektrische Spannung von 126 Milliarden Volt durchläuft. Zum Vergleich: Die mittlerweile selten gewordenen Röhrenfernseher beschleunigen die Elektronen in ihrer Bildröhre mit immerhin rund 20.000 Volt, Röntgenröhren mit gut 100.000 Volt, rund ein Millionstel der nötigen Beschleunigungsspannung.

Der Beschleuniger in Genf erreicht aber nochmals rund 60-fach höhere Teilchenenergien. Dies ist auch nötig, da er sozusagen mit dem Schrot-Prinzip Teilchen aufeinander schießt und nur ein Teil der Energie in neue Teilchen verwandelt werden kann. Im Speicherring des Beschleunigers erreichen die Protonen 99.999998 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Etliche Pakete dieser winzigen Protonen kreisen in gegenläufiger Richtung im 27 Kilometer langen Tunnel hundert Meter unter der Erde. Die supraleitenden Magnete, die sie auf der Bahn halten, sind sehr stromsparend und zugleich äußerst leistungsfähig, müssen aber auf weniger als zwei Grad über dem absoluten Nullpunkt gekühlt werden.

Die Teilchenpakete werden an bestimmten Punkten des Rings zur Kollision gebracht. Dort stehen in riesigen unterirdischen Kavernen haushohe Detektoren, die bis in den kleinsten Winkel mit Messgeräten und Ausleseelektronik vollgestopft sind. In jeder Sekunde sind eine Milliarde Kollisionen zu verzeichnen. Aber pro Jahr entstehen nur bei rund hunderttausend von diesen die gesuchten Higgs-Teilchen. Die unglaublichen Datenmengen, die es hierbei zu verwalten und zu durchforsten gilt, entsprechen der Aufgabe, zu untersuchen, was alle Menschen auf der Welt gleichzeitig sagen - während jeder zwanzig Telefongespräche parallel führen würde.

Was aber hat dieser gigantische Aufwand mit dem nun wahrscheinlich gefundenen Higgs-Teilchen auf sich? Benannt wurde es nach dem schottischen Physiker Peter Higgs, der 1964 eine Arbeit einreichte, in der er ein entscheidendes Manko der damaligen Quantentheorie auszuräumen suchte. Unabhängig von ihm lieferten auch zwei andere Forschergruppen ähnliche Arbeiten, sodass ihnen gleicher Ruhm wie Higgs gebührt: Francois Englert und Robert Brout von der Université Libre in Brüssel sowie Tom Kibble, Carl Hagen und Gerald Guralnik vom Imperial College London.

Das unter Physiker kurz Higgs genannte Teilchen ist so bedeutend, weil es erklären kann, warum in der Teilchenphysik überhaupt so etwas wie Masse auftaucht. Die Gleichungen der Quantentheorie, mit denen Physiker die Elementarteilchen beschreiben, funktionieren zwar hervorragend. Sie geben die fundamentalen Wechselwirkungen der verschiedenen Teilchenklassen wieder und erklären so mit Hilfe von wenigen mathematisch-physikalischen Symmetrieprinzipien die Struktur der uns bekannten Materie. Sie hatten bis zum Einfall von Higgs und seinen Kollegen aber einen entscheidenden Schönheitsfehler: Kein Teilchen durfte eine eigene Masse haben, sonst hätte die Theorie nicht funktioniert. Da aber alle Materie, wie wir sie kennen, Masse besitzt, wunderten sich die Physiker damals, wie ihre wunderbare Theorie zu reparieren sei oder ob sie trotz ihrer Vorzüge nicht vielleicht doch ein Fall für den Mülleimer wäre.

Es war eine gewagte Spekulation von Higgs und den anderen, anstelle der Tatsache, dass jedes Teilchen seine Masse selbst mitbringt, ein neuartiges Kraftfeld zu postulieren, das den Teilchen ihre Masse und Trägheit erst verleiht. Nur wer Masse hat, wirkt einer Beschleunigung mit Widerstand entgegen. Masselose Teilchen wie das Licht können nicht in Ruhe verharren, sondern sind stets mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs. Das Higgs-Kraftfeld ist also eine Art kosmischer Sirup, der sich zwar mit allen Teilchen mitbewegt, aber dafür sorgt, dass sie ihre Geschwindigkeit nicht zu schnell ändern. Ohne dieses Higgs-Feld würden alle Teilchen stets mit Lichtgeschwindigkeit durchs Universum sausen. Es gäbe keine Planeten und keine Beschleuniger und keine Zeitungsleser.

Dieser mathematische Kniff ist nur einer von vielen in der Quantentheorie, aber einer, auf dem letztlich die ganze Theorie ruht. Aus dem Mechanismus, den Higgs und seine Kollegen in die Quantentheorie einführten, folgt auch, dass zu diesem Kraftfeld ein Teilchen existieren sollte. Dieses Teilchen kann sich zeigen, wenn man ungeheuer viel Energie auf einen Punkt im Raum konzentriert. Wenn das Higgs-Teilchen aber doch nicht gefunden werden sollte, bricht die gesamte heutige Elementarteilchentheorie zusammen – zumindest bis ein Theoretiker ein anderes Modell aus der Schublade zieht, das erklärt, warum erst bei höheren als den heute erreichbaren Energien ein solches Teilchen zu finden sein sollte.

Es gibt die lustige Parabel von der Cocktailgesellschaft, um die Wirkweise des Higgs-Teilchens zu illustrieren. So kann ein Unbekannter schnell durch einen Raum voller Gäste und Reporter gehen. Der Unbekannte wäre ein masseloses Teilchen wie etwa das Licht, das sich ungehindert mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. Ein massereiches Teilchen wird hingegen mit einem Prominenten identifiziert, je massereicher, desto prominenter. Diesen Prominenten also umrunden blitzschnell die Leute und Reporter, wodurch er langsamer wird und eine viel größere Trägheit erhält. In diesem Bild wäre das All also ein unendlicher Raum, erfüllt von Paparazzi, durch den hier und da Zusammenballungen von Prominenten huschen.

Das Ärgerliche am Higgs liegt jedoch daran, dass man aus der Theorie nicht vorhersagen kann, wie schwer es ist. Nur über schwierige Messungen und Abschätzungen konnten die Physiker über Jahrzehnte den Energiebereich immer weiter einengen, in dem das Higgs nun hoffentlich gefunden wurde. Hinzu kamen die enormen Nachweisschwierigkeiten. Nicht genug, dass man die komplexeste je von Menschen ersonnene Technik und die modernsten Methoden der Datenverarbeitung entwickeln musste, um aus insgesamt Billiarden von Ereignissen – selbst Bankenretter werden bei solchen Ziffern hellhörig – die entscheidenden paar Dutzend herauszufiltern. Das ist ungefähr so, als wollte man aus einem Olympia-Schwimmbad voller Sand die hundert Sandkörner mit der richtigen Größe herausfischen.

Denn das Higgs versteckt sich gut im riesigen Wust aus anderen Ereignissen. Es wird selten erzeugt und ist noch dazu äußerst kurzlebig. Es zerfällt praktisch an Ort und Stelle seiner Erzeugung wieder in eine mögliche Palette anderer Teilchen, von denen viele wieder selbst instabil sind und weiter in andere Teilchen zerfallen. Die Teilchenphysiker müssen also Spuren rekonstruieren, ähnlich wie Fährtenleser, die im Sand um ein Felsplateau herum die Spuren von Küken sehen und daraus den Rückschluss ziehen müssen, welches Vogelpaar auf dem Felsen gebrütet hat. Nur dass die Eierschalen sich bereits in Luft aufgelöst haben. Das Higgs zerfällt auch auf verschiedene Arten. Nur wenige eignen sich zur Identifikation, einige sind von Nicht-Higgs-Ereignissen kaum zu unterscheiden.

Dass jetzt gleich zwei Großdetektoren unabhängig voneinander verkünden, ihre Daten hätten die Schwelle zum Nachweis überschritten oder zumindest an der Marke von fünf Sigma gekratzt, gilt als sichere Bestätigung. Denn ein Experiment allein kann immer methodische oder bauliche Mängel aufweisen, die irgendwo zu überzogenen Daten führen. Mit dem Nachweiswert von fünf Sigma ist die Irrtumswahrscheinlichkeit nun kleiner als eins zu einer Million. Für Kniffelspieler: Ein Irrtum ist damit ungefähr so unwahrscheinlich, wie neunmal hintereinander auf einem Würfel die selbe Zahl zu würfeln.

Nun gilt es zunächst, das neu entdeckte Teilchen auf Herz und Nieren, d.h. auf seine Quanteneigenschaften und Zerfallsarten zu untersuchen. Viele hoffen, dass es zwar das gesuchte Higgs ist, dass es aber auch einige unerwartete Eigenschaften zeigt, die den Rahmen der heutigen Theorie sprengen. Am meisten ist die Wissenschaft schließlich immer vorangekommen, wenn etwas Unerwartetes passiert ist. Und von der heutigen Theorie wissen wir, dass sie zwar vieles ganz hervorragend erklärt, dass es aber auch eine Reihe von Phänomenen gibt, auf die sie noch keine Antworten hat. Hierzu gehören die seit einiger Zeit bekannten Neutrinooszillationen, die Existenz von unsichtbarer Dunkler Materie und Dunkler Energie im Weltraum sowie die Verknüpfung mit der Gravitation, um nur einige wichtige Punkte zu nennen.

Der Beschleuniger in Genf wird dank seiner hervorragenden Ergebnisse zunächst einige Monate länger laufen als geplant, um dann nach knapp zweijähriger Umbaupause mit noch deutlich gesteigerter Energie neue Projekte in Angriff zu nehmen. Er ist von seinem Bauprinzip her allerdings eher eine Entdeckungsmaschine und weniger eine Präzisionsmaschine. Die Physiker hoffen sich von künftigen Beschleunigern die Möglichkeit, das jetzt entdeckte Teilchen – und hoffentlich noch weitere – hochgenau untersuchen zu können. Dies wird entscheidend sein für die künftigen Entwicklungen in der physikalischen Grundlagenforschung. Die nächsten Monate und Jahre werden jedenfalls erst noch einmal harte Arbeit für alle Beteiligten, bis der Nachweis des Higgs-Teilchens gesichert ist. Die Physik des 21. Jahrhunderts hat am 4. Juli 2012 begonnen.

© Wissenschaft aktuell
Quelle: Eigener Bericht


 

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