15. Oktober: Tag des weißen Stockes

Brailleschrift – Lesen mit den Fingerspitzen
Taunusstein - Auf den ersten Blick mag Blindenschrift wie ein Relief aus sinnlos aneinandergereihten Punkten erscheinen. Und es braucht in der Tat Fingerspitzengefühl und Übung, um den kleinen Punkten Informationen zu entlocken. Für Blinde und stark Sehbehinderte aber ist die Brailleschrift ein zentrales Medium, das aus dem Alltag kaum wegzudenken ist. Sie ermöglicht die schriftliche Kommunikation und eröffnet Blinden damit ein großes Stück Lebensqualität und Selbstständigkeit. Zu finden sind die feinen Erhebungen vielerorts: beispielsweise auf Medikamentenschachteln, auf Tasten im Aufzug oder am Geldautomaten, auf Beschilderungen sowie am Handlauf einer Treppe im Hamburger Hauptbahnhof.

Die zumeist in dickes Papier geprägten Punkte der Brailleschrift sind für die meisten Sehenden wohl nur unter Konzentration ertastbar. Für den Ungeübten ist es schwer vorstellbar, den Symbolen allein mit Hilfe des Tastsinns Informationen zu entnehmen, einzelne Buchstaben oder gar Wörter und ganze Sätze aus dem Prägemuster herauszulesen. Das Fingerspitzengefühl – im wahrsten Sinne des Wortes – eines Geübten aber lässt genau dies zum Alltag werden. Die vermeintlich feinen Prägungen werden zu deutlichen Erhebungen, aus denen leicht zu lesen ist. Dazu sind aber Übung und beständiges Training notwendig. „Es wird ganz schnell vergessen, verlernt, die Sensibilität geht verloren“, erläutert Annette Stelker von der Rehabilitationseinrichtung für Blinde und Sehbehinderte an der Deutschen Blindenstudienanstalt in Marburg. „Das Lernen ist oft gar nicht so das Thema, aber das Fühlen ist das Problem.“ Braille zu vermitteln, macht ihrer Erfahrung nach deshalb nur dann Sinn, wenn jemand Schrift auch ständig nutzt.

Erfunden hat die Brailleschrift der 1809 geborene Franzose Louis Braille, nach dem sie auch benannt ist. Im Alter von vier Jahren erblindete er durch eine entzündete Augenverletzung. Im Alter von elf Jahren kam der äußerst wissbegierige Junge mit der für das Militär gedachten „Nachtschrift“ in Berührung. Diese von Charles Barbier entworfene Schrift war ein sehr komplexes, aus zwölf Punkten bestehendes System, bei dem einzelnen Symbolen bestimme Laute zugeordnet waren. Braille erkannte das Potenzial dieser Schrift für Blinde und vereinfachte sie zu seiner auf sechs Punkten basierenden Schrift, bei der die einzelnen Symbole für einzelne Buchstaben standen. 1825 stellte der 16-jährige Braille seine Schrift fertig. Offizielle Anerkennung fand sie allerdings erst 1850 mit der Einführung an französischen Blindenschulen.

Logischer Aufbau
Ihr Aufbau ist im Grunde logisch und einfach nachvollziehbar: Sechs Erhebungen sind wie die Punkte auf einem Würfel angeordnet. Sie werden in zwei Spalten von oben nach unten durchnummeriert. Die ersten zehn Buchstaben des Alphabets – a bis j – verwenden die oberen vier Punkte (1, 2, 4 und 5). Für die nächsten zehn Buchstaben – k bis t – tritt Punkt 3 links unten hinzu, für die folgenden sowie für Satz- und Sonderzeichen Punkt 6 unten rechts. Nicht ganz ins System der ansonsten logischen Reihenfolge passt dabei das w. Der Buchstabe wird in Brailles Muttersprache Französisch nicht verwendet und wurde daher erst nachträglich in das Alphabet aufgenommen. Rein rechnerisch möglich ist die Darstellung von 64 Zeichen, einschließlich des Leerzeichens. Zeichensätze außerhalb der klein geschriebenen Buchstaben werden durch vorangestellte Steuerzeichen angekündigt. So haben etwa die Ziffern 1 bis 0 dieselben Punkt-Symbole wie die Buchstaben a bis j, ihnen voraus geht aber das Steuerzeichen #. Nun weiß der Leser: Hier folgen Zahlen.

Braille in vielen Lebenslagen
Es gibt zahlreiche eigene Schriftsätze für die unterschiedlichsten Sprachen, aber auch für verschiedenste Hobbys und Lebensbereiche – von Noten über Schach oder Strickmuster bis hin zum Computer. Computerbraille ist in der modernen Welt kaum noch wegzudenken. Dieser Schriftsatz verwendet ein System aus acht Punkten. Die Tastatur ist bei der Arbeit am PC eine ganz gewöhnliche. Der Monitor aber wird von der sogenannten Braillezeile ersetzt, welche die Information in Blindenschrift darstellt. „Ein Screenreader, eine spezielle Software, wertet die Bildschirmseite aus und sendet die Information an die Braillezeile“, erklärt Manfred Jaklin, Geschäftsführer der IPD Infosystem Produktion and Distribution GmbH in Hannover, deren besonderes Augenmerk auf der Ausstattung von Arbeitsplätzen für Blinde und Sehbehinderte liegt. Die Schrift ist dann auf der Braillezeile ertastbar. Es gibt sogar auch moderne Geräte, die die Bedienung per Touchscreen unterstützen, was aber nicht unbedingt einen gesteigerten Bedienungskomfort mit sich bringt. „Es geht, aber schön ist was anderes“, sagt Jaklin. „Ich muss fühlen, bekomme angesagt, wo ich bin und kann erst dann bedienen. Ich finde es nicht komfortabel, ziehe eine Tastatur vor.“

Taktil erfassbare Publikationen umfassen ein breites Spektrum: Nicht nur klassische und moderne Literatur, sondern auch Jugendbücher, Fach- und Lehrbücher werden in Brailleschrift übertragen. Auch Zeitschriften zu den unterschiedlichsten Themen sind in Braille erhältlich – seit 1970 sogar die US-Ausgabe des Playboys, zwar nicht mit den bildlichen, aber mit den textlichen Inhalten. Veröffentlicht wird er vom National Library Service for the Blind and Physically Handicapped (NLS). Die Zahl geprägter Werke lässt jedoch stark nach. Sie nehmen ein Vielfaches eines normalen Buches an Gewicht und Platz ein, sind dementsprechend sperrig und schwer. Das macht sie nicht eben handlich. Vieles ist heutzutage aber in digitaler Form verfügbar und kann so über die Braillezeile gelesen werden. „Das geht auch kabellos über Bluetooth“, so Manfred Jaklin. „Man kann sich mit der Braillezeile in den Sessel setzen.“

Lesen mit Fingerspitzengefühl
Das Lesen der Blindenschrift erlernt sich allerdings nicht von allein. „Wer fit ist, lernt die Vollschrift in 40 bis 50 Stunden“, sagt Annette Stelker. Die Kurzschrift, bei der einzelne Zeichen häufig auftretende Begriffe ersetzen, beansprucht dann nochmals rund 200 Stunden. Kleine Tricks machen das Lernen leichter, zum Beispiel weite Zeilenabstände und frisch geprägte Seiten, die noch nicht abgegriffen sind. „Es kommt aber wirklich immer darauf an, welche Voraussetzungen jemand mitbringt.“ Vor allem Späterblindete haben mitunter enorme Schwierigkeiten. „Viele bringen das im Gehirn nicht zusammen. Ich interpretiere das für mich so, dass sich da was sperrt. Wenn sich jemand besondert schwer tut, haben wir auch schon Eierkartons genutzt, um die Vorstellung begreiflicher zu machen.“

Ein Großteil der Betroffenen erblindet erst im Alter und insbesondere diese Späterblindeten haben häufig Mühe mit Braille. Die Gründe sind vielfältig. Der Tastsinn funktioniert meist längst nicht mehr so gut wie in jungen Jahren, was schon die schlichte Grundlage verschlechtert. Oft kommen noch weitere körperliche oder auch geistige Einschränkungen hinzu, welche das Erlernen von Braille erschweren oder sogar unmöglich machen können. So ist nachvollziehbar, dass bei weitem nicht jeder Blinde die Brailleschrift beherrscht – Schätzungen gehen von lediglich 20 bis 30 Prozent aus. „Ich fürchte, das stimmt“, meint Annette Stelker. „Ein Buch in die Hand nehmen und damit fertig werden, das geht immer weniger“, bedauert sie. Blinde verwenden ihrer Erfahrung nach oft eher das Gehörte als die Braillezeile. Es ist schlicht und ergreifend deutlich einfacher und müheloser. Auch viele Jugendliche verlassen sich lieber auf modernere Hilfen wie die Sprachausgabe von Computern und anderen modernen Geräten. Von sich selbst sagt die seit dem vierten Lebensjahr Blinde: „Ich höre gerne auch mal ein Hörbuch, aber mir ist es ein absolut hohes Gut, Lesen und Schreiben zu können.“

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Quelle: eigener Bericht


 

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